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- Geschrieben von: Sophie Jakob
Was ist kritisches Denken?
„Kritisches Denken fördern bedeutet, Einzelpersonen und Gruppen die Macht und die Erlaubnis zu geben, sich mit ihren Problemen, Fragen und Anliegen auf die verantwortungsvollste, effektivste und selbstkorrigierendste Weise auseinanderzusetzen, die unsere Spezies bisher entdeckt hat.“
Mit diesem Statement fasst Facione (2013) anschaulich zusammen, warum kritisches Denken einen entscheidenden Grundstein für eine lösungsorientierte, progressive und damit zukunftsfähige Gesellschaft bildet. In Zeiten von Fake News, künstlicher Intelligenz und einer immer schnelllebigeren Informationsflut durch Internet und Globalisierung ist die Fähigkeit, den eigenen Kopf zu nutzen und Dinge systematisch zu hinterfragen, wichtiger denn je.
Doch was genau bedeutet eigentlich kritisches Denken? Die Antwort darauf variiert, je nachdem, ob man Pädagogen, Psychologen oder Philosophen fragt, da es bislang keine einheitliche theoretische Definition gibt. Dennoch ergeben sich über alle Fachdisziplinen hinweg gemeinsame Kernmerkmale, die ich hier als Arbeitsdefinition verwenden möchte:
Kritisches Denken beschreibt ein zielgerichtetes, selbstregulierendes Urteilen, das auf zentralen Fähigkeiten wie Analyse, Interpretation, Bewertung und Schlussfolgerung beruht, und verlangt zugleich eine entsprechende Disposition, diese Fähigkeiten regelmäßig, offen und fair einzusetzen. Es umfasst somit sowohl kognitive Kompetenzen als auch die innere Bereitschaft, diese aktiv und kontinuierlich anzuwenden (APA, 1990; Facione, 2011; Shieh und Nasongkhla, 2024)
Kurz gesagt setzt sich kritisches Denken aus zwei Komponenten zusammen: einer Reihe kognitiver Fähigkeiten („Skills“) sowie der Motivation, diese Fähigkeiten tatsächlich zu gebrauchen.
Relevanz von kritischem Denken
Kritisches Denken wird nicht erst im Erwachsenenalter relevant, sondern bereits in Kindheit und Jugend. Die heutigen und zukünftigen Generationen wachsen in einem Umfeld auf, in dem Informationen jederzeit über soziale Medien verfügbar sind. Dies ist keineswegs eine Kritik an der modernen Entwicklung: Technischer Fortschritt ist letztlich das Resultat der Aufklärung und hat in fast allen Lebensbereichen zu höherem Wohlstand und gesteigertem Wohlbefinden geführt (Pinker, 2018; Shieh und Nasongkhla, 2024). Gleichzeitig stellt aber gerade diese Fülle an Informationen eine Herausforderung dar. Kritisches Denken fungiert hier als wichtiges Orientierungswerkzeug (Guamanga, 2025).
Die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre zur letzten Europawahl veranschaulicht beispielhaft die Notwendigkeit, junge Menschen frühzeitig darin zu fördern, eigenständig zu Denken und Dinge kritisch zu hinterfragen, um gut informierte und mündige Entscheidungen treffen zu können.
Kinder und Jugendliche wachsen heutzutage in einer Welt auf, in der ein vollständiges Abschirmen oder Überbehüten vor Informationen auf sozialen Medien weder möglich noch sinnvoll ist. Tatsächlich könnte ein übermäßiges Abschotten die Entwicklung eigenständiger Denkweisen sogar behindern. Stattdessen sollten bereits frühzeitig Methoden vermittelt werden, die es jungen Menschen ermöglichen, Informationen aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten, kritisch zu reflektieren und einzuordnen. Kritisches Denken legt einen wichtigen Grundstein für fundierte Medienkompetenz und kann zugleich als Schutzfaktor gegen Polarisierung und Radikalisierung dienen – ganz unabhängig davon, ob diese aus dem rechten oder linken politischen Spektrum stammt (Jugl, 2022; Shieh und Nasongkhla, 2024; Pinker, 2018; Savage et al., 2021).
Darüber hinaus fördert kritisches Denken eine gesunde Gesprächskultur, in der unterschiedliche Perspektiven nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung wahrgenommen werden (PytlikZillig et al., 2018). Kritisches Denken zu fördern heißt auch, Neugierde dafür zu wecken, warum Menschen unterschiedliche Meinungen vertreten. Die Fähigkeit zur Perspektivübernahme und zum reflektierten Umgang mit verschiedenen Standpunkten – einschließlich des eigenen – verhindert verhärtete Fronten und Dogmatismus. Stattdessen ermöglicht sie konstruktiven Dialog sowie kreative und gemeinschaftliche Problemlösungen.
Förderung von kritischem Denken im Bildungssystem
Kritisches Denken lässt sich bereits im Kindesalter wirksam fördern und sollte daher frühzeitig und fächerübergreifend in das Bildungssystem integriert werden (Florea & Hurjui, 2015). Je eher Kinder lernen, kritisch zu reflektieren und eigenständig Probleme zu lösen, desto besser werden sie auf die vielschichtigen Herausforderungen einer komplexen Zukunft vorbereitet sein. Eine frühzeitige Förderung kritischen Denkens verbessert nachweislich die allgemeine Verständnisfähigkeit, erhöht die Problemlösekompetenz und stärkt die Fähigkeit zu selbstreguliertem Lernen. Lehrer spielen hierbei eine zentrale Rolle: Durch gezielte Fragestellungen, reflektierenden Unterricht und kooperative Lernmethoden können sie aktiv das kritische Denken der Schüler stimulieren und stärken.
Lombardi et al. (2021) identifizieren sechs Kernfähigkeiten, die einen ganzheitlichen Ansatz zur Entwicklung kritischen Denkens darstellen und bereits im Grundschulalter gezielt gefördert werden können:
- Interpretation: Die Fähigkeit, Fakten und Informationen gezielt zu hinterfragen und deren Bedeutung präzise zu erfassen.
- Analyse: Die Kompetenz, Argumente oder Informationen strukturiert zu untersuchen und durch Debatten und Dialoge differenziert zu betrachten.
- Inferenz: Die Fähigkeit, eigenständig logische Schlüsse zu ziehen und Problemlösungen in der Gruppe konstruktiv zu erarbeiten.
- Evaluation: Das Vermögen, Informationen, Ideen oder Argumente kritisch zu beurteilen und konstruktive Rückmeldungen im Austausch mit Gleichaltrigen (Peer-Feedback) zu geben.
- Erklärung: Die Kompetenz, eigene Gedanken und Erkenntnisse klar und verständlich zu kommunizieren, wobei insbesondere digitale Werkzeuge kreative Möglichkeiten für die Kommunikation bieten.
- Selbstregulation: Die Fähigkeit, das eigene Denken und Lernen bewusst zu steuern, insbesondere durch regelmäßige Routinen und wiederholende Reflexionsprozesse.
Die systematische und frühzeitige Förderung dieser Kernkompetenzen bildet die Basis dafür, dass Kinder und Jugendliche ihre intellektuellen Potenziale voll entfalten und im späteren Leben sowohl privat als auch gesellschaftlich verantwortungsvoll agieren können.
Von Fähigkeiten zur Haltung: Die Disposition zum kritischen Denken fördern
Bis hierher wurde deutlich, dass kritisches Denken eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung mündiger und reflektierter Individuen besitzt und daher bereits frühzeitig in der schulischen Bildung verankert werden sollte. Doch wie genau gelingt es, Schüler nicht nur mit kognitiven Fähigkeiten auszustatten, sondern sie auch dazu zu motivieren, diese Kompetenzen regelmäßig und selbstverständlich anzuwenden?
In der beliebten Kindersendung Sesamstraße heißt es treffend: „Wieso, Weshalb, Warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm.“ Auch wenn diese Formulierung humorvoll-provokativ gewählt ist, steckt doch eine essenzielle Wahrheit darin: Kritisches Denken lebt von Fragen, Neugierde und der Bereitschaft, Gewohntes zu hinterfragen. Genau an diesem Punkt wird sichtbar, dass kritisches Denken mehr ist als die Summe einzelner Fähigkeiten. Es bedarf zusätzlich einer entsprechenden inneren Haltung – einer Disposition –, um die erlernten Fähigkeiten konsequent und effektiv einzusetzen. Nur wenn Kinder und Jugendliche von sich aus neugierig sind und Freude daran empfinden, neue Fragen zu stellen, werden sie das Potenzial des kritischen Denkens voll ausschöpfen können.
Facione (2000) benennt hierzu zentrale Dispositionen, die die Anwendung kritischen Denkens begünstigen und die bereits früh gefördert werden sollten:
- Neugierde: Der Wunsch, neue Informationen zu entdecken und Zusammenhänge zu ergründen.
- Aufgeschlossenheit: Die Fähigkeit, unterschiedliche Sichtweisen offen zu betrachten und bestehende Annahmen kritisch zu reflektieren.
- Systematik: Ein methodisches Vorgehen bei Problemlösungen, das strukturierte Denkprozesse fördert.
- Analytizität: Der Impuls, komplexe Sachverhalte tiefgehend zu hinterfragen und potenzielle Herausforderungen vorausschauend zu erkennen.
- Beharrlichkeit: Die Bereitschaft, sich auch schwierigen Aufgaben ausdauernd und gründlich zu widmen.
- Selbstvertrauen im Denken: Ein gesundes Maß an Vertrauen in die eigenen kognitiven Fähigkeiten.
- Reife: Die Kompetenz, Entscheidungen sorgfältig und differenziert auf Grundlage reflektierter Überlegungen zu treffen.
Diese Dispositionen sind keineswegs angeborene Charakterzüge, sondern lassen sich gezielt pädagogisch fördern. Besonders wirksam sind dabei folgende Strategien:
- Vorbildfunktion der Lehrkräfte: Kinder orientieren sich an Erwachsenen, die selbst regelmäßig kritisches Denken vorleben. Pädagogen, die offen Fragen stellen und Unsicherheiten reflektiert diskutieren, fördern ein entsprechendes Verhalten bei Schülern.
- Offene Diskussionskultur: Schulen sollten Räume schaffen, in denen kontroverse Themen angstfrei diskutiert und unterschiedliche Meinungen als Bereicherung erlebt werden. Schüler, die lernen, offen miteinander zu diskutieren, entwickeln langfristig eine robuste Diskussionsfähigkeit.
- Reflexion des eigenen Denkens: Schüler sollten regelmäßig ermutigt werden, über ihre Denk- und Lernprozesse nachzudenken und diese kritisch zu hinterfragen. Diese metakognitive Reflexion hilft ihnen, eigene Stärken und Schwächen zu erkennen und kontinuierlich weiterzuentwickeln.
- Herausfordernde und realitätsnahe Problemstellungen: Komplexe Fragestellungen aus der Lebenswelt der Schüler wecken intrinsische Motivation, regen ihre Neugierde an und verlangen den Einsatz vielfältiger kognitiver und sozialer Fähigkeiten.
Die gezielte Kombination aus der Vermittlung kognitiver Fertigkeiten und der systematischen Förderung dieser Dispositionen ermöglicht Kindern und Jugendlichen, sich zu eigenständigen und selbstbewussten Persönlichkeiten zu entwickeln. Nur so werden sie befähigt, auch zukünftige Herausforderungen souverän zu meistern und in einer komplexen, dynamischen Welt verantwortungsbewusst und handlungsfähig zu bleiben. Damit diese Förderung jedoch wirksam ist, sollten Schulen entsprechende Lernbedingungen schaffen, in denen Schüler sich aktiv und eigenständig mit komplexen Inhalten auseinandersetzen können. Laut Florea und Hurjui (2015) profitieren insbesondere jüngere Kinder deutlich von partizipativen Lernmethoden und der Arbeit in Kleingruppen. Diese Lernumgebungen fördern nicht nur kognitive Spitzenleistungen wie Abstraktion, Analyse und Synthese, sondern stärken auch soziale Kompetenzen wie kooperatives und kreatives Problemlösen. Entscheidend für den Erfolg ist dabei, dass Lehrkräfte offene und angstfreie Diskussionsräume schaffen, in denen Kinder ermutigt werden, neugierig zu sein, eigene Positionen frei zu formulieren und unterschiedliche Perspektiven zu reflektieren.
Fazit
In einer Welt, in der Fakten leicht manipulierbar und Informationen nahezu unbegrenzt verfügbar sind, ist kritisches Denken nicht nur eine wünschenswerte Kompetenz, sondern eine essenzielle Voraussetzung für eine mündige und resiliente Gesellschaft. Indem wir bereits junge Menschen frühzeitig mit den notwendigen kognitiven Fähigkeiten und der richtigen inneren Haltung ausstatten, befähigen wir sie, aktiv und verantwortungsvoll an der Gestaltung ihrer Zukunft mitzuwirken. Kritisches Denken darf somit nicht als optionales Bildungsziel betrachtet werden – vielmehr sollte es zentraler Bestandteil einer zeitgemäßen und nachhaltigen Bildungspolitik sein. Nur so können wir sicherstellen, dass kommende Generationen in der Lage sind, die Herausforderungen einer zunehmend komplexen Welt eigenständig, reflektiert und lösungsorientiert anzugehen.
Referenzen
Facione, P. (1990). Critical thinking: A statement of expert consensus for purposes of educational assessment and instruction (The Delphi Report).
Facione, P. A. (2000). The disposition toward critical thinking: Its character, measurement, and relationship to critical thinking skill. Informal logic, 20(1).
Facione, P. A. (2011). Critical thinking: What it is and why it counts. Insight assessment, 1(1), 1-23.
Facione, P. A., & Facione, N. C. (2013). Critical thinking for life: Valuing, measuring, and training critical thinking in all its forms. Inquiry: Critical thinking across the disciplines, 28(1), 5-25.
Florea, N. M., & Hurjui, E. (2015). Critical thinking in elementary school children. Procedia-Social and behavioral sciences, 180, 565-572.
Jugl, I. (2022). Breaking up the Bubble: Improving critical thinking skills and tolerance of ambiguity in deradicalization mentoring. Journal for Deradicalization, (30), 45-80.
Guamanga, M. H., Saiz, C., Rivas, S. F., & Bueno, P. M. (2025). Critical Thinking and Metacognition: Pathways to Empathy and Psychological Well-Being. Journal of Intelligence, 13(3), 34.
Lombardi, L., Mednick, F. J., De Backer, F., & Lombaerts, K. (2021). Fostering critical thinking across the primary school’s curriculum in the European schools system. Education Sciences, 11(9), 505.
Pinker, S. (2018). Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt: eine Verteidigung, 2.
PytlikZillig, L. M., Hutchens, M. J., Muhlberger, P., Gonzalez, F. J., Tomkins, A. J., PytlikZillig, L. M., ... & Tomkins, A. J. (2018). Attitude change and polarization. Deliberative Public Engagement with Science: An Empirical Investigation, 61-87.
Savage, S., Oliver, E., Gordon, E., & Tutton, L. (2021). Addressing social polarization through critical thinking: Theoretical application in the “Living Well With Difference” course in secondary schools in England. Journal of social and political psychology, 9(2), 490-505.
Shieh, C. J., & Nasongkhla, J. (2024). Effects of motivation to use social networking sites on students’ media literacy and critical thinking. Online Journal of Communication and Media Technologies, 14(1), e202404.